Editorial
   
von Prof. Dr. med. Georges L. Kaiser  


 



Durch die Entwicklung von geeigneten Operationsverfahren und Fortschritte in der Anästhesie und Intensivmedizin wurde es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts möglich, zahlreiche angeborenen Missbildungen mit Erfolg zu behandeln und die Neugeborenenchirurgie wurde zu einem wichtigen Bestandteil des schon länger bestehenden Fachbereiches Kinderchirurgie und von anderen chirurgischen
Spezialgebieten. Gleichtzeitig entwickelte sich in der zweiten Periode des genannten Zeitabschnittes die pränatale Diagnostik rasant, womit es bereits in der Frühschwangerschaft möglich wurde, einen substantiellen Anteil dieser einer Operation zugänglichen Fehlbildungen zu erkennen und einen fristgerechten Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen.

In der jüngsten Zeit wird auch die Tötung schwerst missgebildeter Neugeborener propagiert und vorgenommen. Die Zweckmässigkeit und Statthaftigkeit der geschilderten Lösungsmodelle bei missgebildeten und potentiell behinderten Feten und Neugeborenen wird in unserer Gesellschaft trotz gesetzlicher Regelungen kontrovers abgehandelt. Kinderchirurgen, aber auch Pädiater, die ein grosses Wissen über diese Missbildungen erworben haben (Behandlungsoptionen, Langzeitverläufe) und gewohnt sind, sowohl das von einer operativen Missbildung betroffene Kind als auch dessen Eltern zu betreuen, müssen sich unbedingt als Anwalt des noch nicht geborenen Kindes einbringen und im Falle einer Fortsetzung der Schwangerschaft die Eltern mitbegleiten.

Im Entscheidungsprozess um Leben oder Tod und um Behandlung oder Nicht-Behandlung müssen die Eltern (dies gilt auch für randständige, sozial unterprivilegierte und/oder alleinstehende Mütter) optimal und realistisch informiert werden und dürfen keinem gesellschaftlichen oder institutionellen Druck ausgesetzt werden. Dazu benötigt der Kinderchirurg nicht nur das anvisierte Fachwissen sondern auch eine umfassende Schulung.

Während meiner klinischen Tätigkeit haben mich Begegnungen mit behinderten Langzeitpatienten und ihren Eltern immer wieder gefordert und berührt. Ein immer zufriedenes Kind drückte seine Freude, mich anlässlich der Jahreskontrolle zu sehen, am Schluss der Konsultation mit einem Wangenkuss aus. Diese Begegnung hat mich mehr motiviert als die Jahreserfolgsrechnung unserer Klinik, für die Patienten jederzeit verfügbar zu sein. Ist die wirtschaftliche Brauchbarkeit eines Menschen tatsächlich der einzige erlaubte Normalzustand?

Basel im Sommer 2006, Georges Louis Kaiser